Weniger ist mehr: Warum jetzt die Zeit reif ist, Versicherungsprodukte einfacher zu machen

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Die Versicherungswirtschaft steht vor einer massiven Herausforderung: Um die Komplexität der Vergangenheit und die damit einhergehende kosten­intensive Legacy-IT loszuwerden, muss sie ihr Produktportfolio vereinheit­lichen. Erst dann werden Versicherer in der Lage sein, sich agil genug mit genau denjenigen Ökosystemen zu vernetzen, die für ihre Marktstrategie zentral sind. Doch noch werden die Bestandsprodukte höchst unterschied­lich gemanagt. Rasche Abhilfe ist dringend geboten. Die angestrebte Digi­talisierung wird nur gelingen, wenn sich sämtliche Produkte konzernweit auf einige wenige Entwicklungsmodelle stützen, welche die aktuariellen, vertrieblichen und technischen Anforderungen des Marktes kohärent lösen. Kein Zweifel, ein solches Rahmenwerk aufzusetzen, ist ein äußerst ambitionierter Plan. Vorreiter wie der chinesische Versicherungskonzern Ping An oder die deutsche Allianz setzen ihn bereits mit großem Engagement um.

„Noch sind unsere Produkte viel zu kompliziert“, räumte Iván de la Sota im Interview mit dem Handelsblatt im Februar dieses Jahres unumwunden ein. Mit gesundem Selbstbewusstsein stellte der Digitalvorstand der Allianz dann aber auch gleich in Aussicht: „Das wird sich ändern. Künftig werden wir deutlich weniger Produkte haben, die viel ähnlicher aussehen, ähnliche Funktionalitäten haben – und letztlich werden unsere Gesellschaften auf einer gemeinsamen IT-Plattform laufen. Wenn wir Gesellschaften haben, die aus einem Guss sind, können wir jede Innovation in kurzer Zeit dem gesamten Konzern zur Verfügung zu stellen.“

Worauf sich Portfolio-Vereinfacher wie Iván de la Sota stützen, sind insbesondere zwei Erkenntnisse. Die erste besteht darin, dass bei einer näheren Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen von vergleichbaren Versicherungsprodukten klar wird, dass die Mehrzahl ihrer Merkmale ausreichende Gemeinsamkeiten aufweisen, um die Bausteine, die diese Merkmale abbilden, in eine gemeinsame Architektur zu überführen. Die weitreichende Übereinstimmung in der Produkt- und Prozesslogik zeigt sich auf sämtlichen Geschäftsfeldern und hält auch den kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Landesgesellschaften stand. Vor diesem Hintergrund besteht die wesentlichste inhaltliche Aufgabe darin, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und in einer kongruenten Entwicklungsumgebung für alle Produktdesigner im Unternehmen zu erschließen.

Die zweite Erkenntnis besteht darin, dass der technologische Haupt­hinderungsgrund für den konzernweiten Rollout von einheitlichen Pro­dukten inzwischen weggefallen ist. Schließlich hatten frühere Programme zur Produktharmonisierung stets mit dem Umstand zu kämpfen, dass die Legacy-Systeme der unterschiedlichen Business Units zu proprietär und zu heterogen waren, um eine bereichsübergreifende Governance einzuziehen. Ganz im Gegenteil, oftmals luden die unterschiedlichen Plattformen geradezu dazu ein, vergleichbare Marktanforderungen mit jeweils eigenen Mitteln anzugehen. Dank der Verfügbarkeit von cloudbasierten Plattform­modellen lässt sich die IT nun weit genug aufräumen, um die Vereinheit­lichung der Produktentwicklung mit der gebotenen Konsequenz umzusetzen.

Unternehmerische und finanzielle Mehrwerte
Der Nutzen einer gemeinsamen Produkt- und Prozesslogik ist außerordent­lich weitreichend und zieht sich durchs gesamte Unternehmen. Denn in dem Maße, wie sich Produkte einheitlich managen lassen, wächst die Reife der kompletten Prozessorganisation. Die daraus resultierenden Mehrwerte erweitern sowohl die unternehmerischen als auch die finanziellen Hand­lungsspielräume. Blicken wir zunächst auf die monetäre Seite: Wesentlich niedrigere Produktions- und Prozesskosten ergeben sich auf allen Ebenen des Produktlebenszyklus. Sie reichen von der Vertriebsphase über das Claims Management bis zum Umgang mit Vertragsänderungen. Projekt­erfahrungen des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens ISG zufolge sind Kosteneinsparungen von 15 bis 30 Prozent möglich.

Mit den sinkenden Stückkosten erschließen die Unternehmen neue Mittel, um auch die inhaltlichen Freiräume zu nutzen, die sich im Zuge der Pro­duktvereinheitlichung öffnen. Neue Marktchancen ergeben sich vor allem daraus, dass Versicherungen signifikant an Agilität gewinnen, um ihr Bestandsangebot an veränderte Marktanforderungen anzupassen sowie Innovationen, wie zum Beispiel komplett neue Versicherungsmodelle, zeit­nah an den Markt zu bringen. Auf dieser Grundlage lassen sich weltweite Rollouts deutlich schneller als in der Vergangenheit durchführen, so dass gerade auch neue Lösungen wesentlich überzeugender skalieren können.

Digital Twin als Schlüssel zum Erfolg
So viel zu den zentralen Nutzenerwartungen, die sich an einfacher designte Versicherungsprodukte knüpfen. Doch um zu verstehen, was auf dem Weg dahin zu tun ist, lohnt auch ein etwas genauerer Blick auf die Defizite, die mit den historisch gewachsenen Portfolios und der sie unterstützenden Prozessorganisation einhergehen. Warum also sind Bestandsprodukte zu kompliziert aufgebaut, um sie auch unter den Rahmenbedingungen der Plattformökonomie wirtschaftlich managen zu können? Im Wesentlichen kämpfen die Unternehmen mit vier Komplexitätstreibern. Es gibt oftmals …
… zu viele Versicherungsgegenstände in einem einzigen Tarif;
… zu viele alte Tarifgenerationen;
… zu viele länderspezifische Unterschiede;
… zu viele Besonderheiten, die dabei helfen sollten, die unterschiedlichen Vertriebskanäle individuell zu bedienen.

Doch damit nicht genug. Jeder einzelne Unterschied in der Produktausge­staltung potenziert sich in der operativen Prozesslandschaft. Betrachtet man dann auch noch die Vielfalt der historisch gewachsenen IT-Systeme, so entsteht eine Komplexitätsmatrix, die es in sich hat. Wer vor diesem Hintergrund die Hebel umlegen und ein kohärentes Rahmenwerk für das Produktdesign einziehen will, tut gut daran, sein methodisches Denken an Industrieunternehmen auszurichten, die bereits vor Jahren damit begonnen haben, einen Digital Twin ihrer Produkte und der zu ihrer Herstellung erfor­derlichen Betriebsabläufe zu erstellen. Eine solche digitale Repräsentation ihrer Wertschöpfung erlaubt es Unternehmen, Produkte und Abläufe ein­heitlich zu modellieren, zu testen, kontrolliert auszurollen und die Perfor­mance der Neuerungen in Echtzeit zu testen, um dann innerhalb kürzester Entwicklungszyklen mögliche Anpassungen vorzunehmen. Um dies zu erreichen, führt der Digital Twin zu einer Standardisierung des Entwickler­wissens, der Design-Methoden und der zu verwendenden technischen Komponenten.

Das Aufsetzen und dann vor allem auch die Etablierung eines solchen Rahmenwerks ist alles andere als trivial. Was dabei im Einzelnen zu beachten ist, sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Zumal die zu berücksichtigenden Anforderungen je nach Betriebsorganisation und Geschäftsmodell höchst unterschiedlich ausfallen. Ungeachtet dessen gibt es fünf Design-Prinzipien, die beim Bau eines solchen Modells Orientierung geben:
1. Echte Kundenorientierung einziehen
2. Portfolio straffen
3. Altlasten abbauen
4. Kompetenz in der Preisgestaltung stärken
5. Ganzheitliche Angebote schaffen

1. Design-Prinzip: Echte Kundenorientierung einziehen
Die Maßgabe, den Kunden und seine Bedürfnisse ins Zentrum seiner Produkte zu stellen, ist sicherlich so alt wie das Assekuranzgeschäft selbst. Vor dem Hintergrund der auf allen Ebenen gestiegenen Komplexität ist diese Grundüberzeugung jedoch ein erhebliches Stück weit in die Defen­sive geraten. In besonderem Maße gilt dies für die Erfüllung des Kunden­bedürfnisses, die Funktionsweise und den Mehrwert eines Versicherungs­produkts ohne zeitaufwendige Erläuterungen verstehen zu können. Um zu intuitiv erfassbaren und somit dann auch wieder deutlich sympathischeren Angeboten zurückzukehren, hat das Design-Rahmenwerk die Voraus­setzungen zu schaffen, dass die Zahl der nutzbaren Unterscheidungs­kriterien auf ein echtes Minimum begrenzt wird. Oberste Leitlinie dafür ist: Jede zusätzliche Ausprägung eines Bauelements muss vor ihrer Freigabe daraufhin überprüft werden, dass sie in messbarer Art und Weise zu einer marktrelevanten Differenzierung beitragen wird. Falls dies nicht der Fall ist, ist nur der Standard zu nutzen.

2. Design-Prinzip: Portfolio straffen
Unabhängig davon, ob Entwickler an der Aktualisierung von Bestands­produkten oder der Ausgestaltung von neuen Angeboten arbeiten, stets gilt es die gesamte Customer Journey in den Blick zu nehmen – von der ersten Kontaktaufnahme über die Vertragsgestaltung, das Forderungsmanage­ment und die Abrechnung bis zur Auflösung des Vertragsverhältnisses. Dabei liegt das Kernziel stets darin, zu einer minimalen Zahl von Paket­lösungen zu kommen, mit der sich die Nutzenerwartungen der weit über­wiegenden Mehrheit der Kunden erfüllen lassen. Demgegenüber werden Deckungen mit geringem Marktpotenzial und hoher interner Komplexität vermieden. Diese Vorgabe führt unweigerlich zu Portfoliobereinigungen. Je mehr die Versicherungen dann in ihren Bestandsprodukten aufräumen, desto größere Freiräume entstehen, um zusätzliche Wertschöpfungs­schritte zu übernehmen und umfassendere Angebote zu schaffen (vgl. Design-Prinzip Nr. 5).

3. Design-Prinzip: Altlasten abbauen
Neue Produkte sind so zu designen, dass sie gerade auch in all jenen Bereichen für Entlastung sorgen, die von den Altlasten am stärksten betroffen sind. Hierzu zählen vor allem die Aufgabenfelder Deckung, Preisgestaltung und Administration. Von herausragender Bedeutung ist es dabei, die produkt- und prozessbezogenen Voraussetzungen zu schaffen, um in kürzest möglicher Zeit alle Tarife auf die aktuellste Tarifgeneration sowie auf die jüngste Fassung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen umzustellen. Zudem muss das Design gewährleisten, dass sich die jeweils gültigen Geschäftsbedingungen, Tarifsysteme und Rabattprogramme jederzeit anpassen lassen, ohne dazu in die Produktmodelle und Backend-Systeme eingreifen zu müssen.

4. Design-Prinzip: Kompetenz in der Preisgestaltung stärken
Die einheitliche Plattform aus Technik und Prozessen führt zu einem besseren Verständnis der Produktionskosten. Da stets nur die identischen Elemente des Rahmenwerks zum Einsatz kommen, entsteht eine gemeinsame Messgrundlage für alle Produkte. Der damit einhergehende Transparenzgewinn erlaubt präzisere Formen der Produktivitätssteuerung und Preisgestaltung. Darüber hinaus vereinheitlicht das Rahmenwerk das Rabattmodell für alle Geschäftsfelder und Vertriebskanäle. Innerhalb der Rabattierungen unterscheidet sich dann nur noch die Höhe der Parameter. Jede Abweichung davon muss durch einen messbaren Geschäftsnutzen begründet werden.

5. Design-Prinzip: Ganzheitliche Angebote schaffen
Der aus Unternehmenssicht wichtigste Nutzen des Rahmenwerks besteht darin, die Kunden mehr und mehr in ihrer gesamten Lebenswelt anzu­sprechen. Genau an dieser Stelle kommen die Entwicklungschancen ins Spiel, die die Vernetzung über Plattformen bringt. So etwa in den Öko­systemen Smart City, Smart Home, Telemedizin oder Industrie 4.0. Plattformen in diesen Lebens- und Wirtschaftswelten bieten den Unter­nehmen vielfältige Anknüpfungspunkte, um die Interaktionen mit ihren Kunden in einer Weise zu vertiefen, die weit über das eigentliche Ver­sicherungsgeschäft hinausgeht. Auf dieser Basis ergeben sich fortgesetzt Gelegenheiten, neues Wissen zu erlangen, um weitere Kundensegmente zu erschließen und zusätzliche Wertschöpfungsfelder aufzubauen.

Erschienen in der Versicherungswirtschaft, Ausgabe Januar 2020

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About the author

Johanna von Geyr

Johanna von Geyr

Johanna is a market leader in Transformation Management with more than 10 years’ experience in consulting services. Within complex transformation programs of all sizes, she has a proven track record in a number of industries and outsourcing programs. From strategy to the point of implementation, Johanna has worked successfully with both national and international clients, with a track record to achieve the best results for them.
 
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