86 Prozent der Versicherungsunternehmen in Europa erwarten, dass sich das Kundenverhalten nach der COVID-19-Krise verändern wird – zum Teil sogar grundlegend. Vor allem die Nachfrage nach digitalen Produkten und Services werde steigen. Eine aktuelle Umfrage der Information Services Group (ISG) unter europäischen Versicherern zeigt zudem: Dieses veränderte Kundenverhalten führt zu Umbrüchen im geschäftlichen Ökosystem der Dienstleister und beschleunigt technologische Innnovationen. COVID-19 ist der ISG-Umfrage zufolge ein deutlicher Weckruf. Wer ihn nicht höre, gefährde sein Geschäft.
Das Kundenverhalten im Versicherungsmarkt hat sich nicht nur während der aktuellen COVID-19-Krise grundlegend geändert. Viele dieser Veränderungen waren schon vorher angestoßen und sie werden von Dauer sein. So stimmen mehr als 95 Prozent der in der ISG-Studie befragten Entscheider voll oder teilweise der Aussage zu, dass sich ihre Kunden verstärkt digitale Produkte und Services wünschen. Hinzu kommt, dass die derzeitige Krise viele Versicherungskunden verunsichert hat, was dazu führt, dass sie lang bewährte Geschäftsbeziehungen hinterfragen lässt.
Weiterhin ist eine zweite Viruswelle nicht auszuschließen. Zwar verfügen Versicherungen dem Analystenhaus A. M. Best zufolge über große Liquiditätsreserven, doch die Unsicherheiten sind dennoch groß. So geht zum Beispiel der CEO des Rückversicherers Swiss Re, Christian Mumenthaler, von 50 bis 100 Milliarden US-Dollar versicherter Schäden aufgrund von COVID-19 aus. Zudem ist noch nicht abschließend geklärt, ob Versicherer für Produktionsausfälle in Folge des behördlichen Lockdowns aufkommen müssen. BaFin-Exekutivdirektor Frank Grund zum Beispiel argumentiert hier zwar aufseiten der Versicherer, empfiehlt jedoch Kulanzlösungen, um das Image bei den Kunden nicht nachhaltig zu schädigen.
COVID-19 wird lange nachwirken
Schon bisher galt: Kein Kunde liebt lange Wartezeiten, das Ausfüllen zahlreicher Formulare und die Zuständigkeit vieler unterschiedlicher Abteilungen. Doch die zuletzt deutliche Digitalisierung des Alltags – sei es im Homeoffice oder beim Einkaufen – verändert die Erwartungen auch von Versicherungskunden derzeit zusätzlich – und nachhaltig. So gehen 64 Prozent der in der ISG-Studie befragten Entscheider davon aus, dass die durch COVID-19 in Gang gesetzten Auswirkungen aufs Geschäft länger als ein Jahr anhalten werden. Weitere mehr als 20 Prozent rechnen mit sieben bis 12 Monaten, bevor sich eine neue Normalität einstellt.
Die Versicherungen sind sich absolut im Klaren darüber, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit vor allem an verbesserten Kundenerlebnissen hängt. Rund dreiviertel der Befragten stufen dieses Thema als besonders oder ziemlich wichtig ein. Relevant ist auch das Thema „Stabilität des Betriebs“, das in der Krise eine gute Hälfte der Befragten als wichtig erachtet. Zum Vergleich: Kostenreduzierung sehen aktuell nur ein Viertel als Priorität.
COVID-19 rückt die Beziehung der Versicherer zu ihren Kunden auch deshalb in den Mittelpunkt, da es mittlerweile eine ganze Reihe (erfolgreicher) Newcomer am Markt gibt, die agilen und digitalen Ansätzen folgen. Auch große Player wie zum Beispiel Allianz und Ping An integrieren Kundenanforderungen inzwischen systematisch in ihre agile Produktentwicklung. So stimmen 92 Prozent der in der ISG-Studie befragten Entscheider folgender Aussage ganz oder teilweise zu: „Die Krise wird Innovationen beschleunigen.“
Doch nicht nur, weil ihre Kunden zunehmend andere Prioritäten setzen, stehen Veränderungen ins Haus. Auch gänzlich neue Geschäftsmodelle sorgen dafür, dass Versicherungen ganz anders „konsumiert“ werden als bisher. Ein Beispiel ist die Kooperation zwischen Allianz und BMW, bei der die Autoversicherung integraler Bestandteil eines Gesamtpakets ist. Sie lässt sich so einfach konfigurieren wie die einzelnen Komponenten des Informations- und Entertainment-Systems im Fahrzeug.
Anderes Geschäft, andere Partner
All dies hat Auswirkungen auf das Partner-Ökosystem der Versicherungen: 56 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zumindest teilweise zu, dass sich ihr bestehendes Ökosystem signifikant verändern wird. Jeweils knapp 60 Prozent der Befragten erwarten, dass wegen der Krise bestimmte Player vom Markt verschwinden, während andere ihren Platz einnehmen – seien es Vendoren, InsureTechs oder IT-Dienstleister. Dies kann auch bedeuten, dass bestimmte, bisher ausgelagerte Aufgaben und Funktionsbereiche wieder ins eigene Unternehmen zurückgeholt werden. Rund 41 Prozent können sich dies zumindest teilweise vorstellen, für fast die Hälfte ist dies jedoch eher keine Option.
Wenige einfache Versicherungen
Eine wichtige Rolle spielte schon vor COVID-19 die weitere Vereinfachung der Versicherungsprodukte, wie sie nicht nur Newcomer wie Lemonade oder Coverly vorantreiben. Auch Allianz investiert deutlich in diese Richtung, und ein führender Schweizer Versicherer hat zum Beispiel auf dem britischen Markt die Zahl seiner Produkte zuletzt von über 100 auf weniger als 30 reduziert – mit der Folge, dass das Unternehmen nicht nur viele Kosten sparte, sondern auch die Wirtschaftlichkeit des Geschäfts insgesamt stieg. Von den Imagegewinnen ganz zu schweigen. So stimmen in der ISG-Befragung auch 79 Prozent der Befragten voll oder teilweise zu, dass ihr Unternehmen das Produktportfolio weiter vereinfachen will. Rund 15 Prozent sind unentschieden, während nur 6 Prozent nicht zustimmen.
Solche Produktvereinfachung fußen zu einem großen Teil auf der Digitalisierung und Automatisierung der Geschäftsprozesse. Dabei gilt heute schon: Je automatisierter und digitaler Versicherungen arbeiten, umso schwächer sind die aktuellen Disruptionen ihres Geschäfts durch COVID-19. Rund 70 Prozent der Versicherer melden solche Betriebsstörungen – sei es, dass der Kundendienst nicht oder nur eingeschränkt verfügbar ist oder dass das Abschließen von Versicherungen länger dauert als üblich. Insofern wird CoOVID-19 bereits jetzt als deutlicher Weckruf verstanden: 93 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die Krise Investitionen in digitale und Automatisierungslösungen voll oder teilweise begünstigt.
Dieser Trend wird sich zusätzlich verstärken, da europäische Regulierungsbehörden derzeit an neuen, schärferen Regeln für die betriebliche Integrität und Belastungsfähigkeit arbeiten. Sobald diese Messlatte spätestens im Herbst dieses Jahres höher gelegt wird, fördert dies Initiativen intelligenter Automatisierung zusätzlich. Nicht zuletzt verbessern Automatisierung und Data Analytics wiederum auch das Kundenerlebnis. Das zeigen die Erfahrungen vieler neuer Versicherungsdienstleister, die ihr Betriebsmodell von vornherein auf der Analyse auch externer Daten aufgebaut haben und somit eine umfassendere Kundenerfahrung bieten können.
Versicherungsmakler haben Zukunft
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die klassischen Vertriebskanäle der etablierten Versicherer, wie zum Beispiel Verkaufsagenturen, obsolet werden. Die Kunden schätzen auch weiterhin ihren direkten Ansprechpartner in regionaler Nähe. Vor allem in Deutschland ist die Tradition der Multikanalversicherungen sehr stark. Rund 84 Prozent der Befragten geht deshalb davon aus, dass ihr Unternehmen auch weiterhin den Vertrieb über verschiedene Kanäle betreibt. Nur 16 Prozent erwarten einen großen Schub in Richtung Direktversicherung.
In ganz Europa werden derzeit noch mehr als die Hälfte aller Versicherungen über Makler verkauft – mit leicht abnehmender Tendenz. In Zukunft werden sie mehr und mehr als Berater und weniger als Verkäufer agieren. Zugleich wird sich auch ihr Geschäftsalltag deutlich digitalisieren und automatisieren. ISG beobachtet schon seit einiger Zeit, dass sich viele Makler entsprechend positionieren und mithilfe unterschiedlicher externer Datenquellen (Data Analytics) die Risiken ihrer Kunden gezielt und individuelle in unterschiedlichen Szenarien bewerten. So können sie Auskunft darüber geben, wie ihre Kunden deren Lieferketten und Ökosysteme am nachhaltigsten organisieren.
Doch nicht nur mit dem Blick auf die Makler, sondern auch auf ihr eigenes Unternehmen zeigen sich die befragten Entscheider zuversichtlich: Rund 54 Prozent stimmen der Aussage zu, dass ihre Organisation gut aufgestellt ist, um mit den Folgen von COVID-19 klarzukommen. Weitere rund 38 Prozent sehen dies zumindest zu größeren Teilen so, während nur 8 Prozent diesen Optimismus nicht teilen. Mit Blick auf die zum Teil einschneidenden Veränderungen, welche die Befragten vor allem mit Blick auf ihre Kundenbeziehungen erwarten, gilt jedoch auch: Diese Zuversicht ist sicher nur dann begründet, wenn die Versicherungen die aktuelle Krise wirklich als Weckruf verstehen – und die Digitalisierung, Automatisierung und Verschlankung ihres Geschäfts beschleunigen.
Erschienen in der Versicherungswirtschaft; Ausgabe Juli 2020